- Text : Christiane Fux
- Lesedauer : 6 Minuten
Arzneimittelengpässe sind für kranke Menschen sehr verunsichernd – insbesondere, wenn sie an einer lebensbedrohlichen Krankheit leiden. Prof. Matthias Beckmann, Direktor des Comprehensive Cancer Center Erlangen-Nürnberg, kennt das bei seinen Krebspatientinnen aus eigenem Erleben: „Die Frauen fallen geradezu in sich zusammen, wenn sie hören, ihr Arzneimittel ist nicht mehr verfügbar“, berichtet er.
Kein Plan B in der Krebstherapie
Gemeinsam mit anderen Koryphäen macht er in einem Pressegespräch der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. (DGHO) auf akute Engpässe auch bei Krebsmedikamenten aufmerksam. Denn nicht nur Paracetamol- oder Ibuprofen-haltige Fiebersäfte für Kinder sind derzeit Mangelware – auch überlebenswichtige Tumortherapeutika. Denn viele Krebsmedikamente sind hochspezialisiert, einen adäquaten Plan B für die Therapie gibt es häufig nicht.
Ein Beispiel dafür ist Tamoxifen. Das Medikament wird seit Jahrzehnten zur Nachsorge von Patientinnen mit hormonsensiblen Brusttumoren eingesetzt. Es hemmt Botenstoffe, die das Wachstum dieser Tumoren begünstigen. Im Frühjahr 2022 hieß es plötzlich: „nicht lieferbar“. Patientinnen klapperten die Apotheken ab, Apotheker telefonierten sich die Finger wund, um doch noch eine Packung aufzuspüren.
Wenn die beste Chance auf Überleben gerade vergriffen ist
Dabei soll die fünfjährige Behandlung lückenlos sein. Die Frauen werden daher von ihren Ärztinnen und Ärzten auf die Therapie geradezu eingeschworen. „Wir empfehlen die beste Behandlung. Und dann müssen wir den Patientinnen sagen: Momentan geht es leider nicht“, so Beckmann. Das Vertrauensverhältnis zu den Patientinnen sei dann nachhaltig gestört.
Mehr noch: Für jüngere Brustkrebspatientinnen, die noch nicht in den Wechseljahren sind, gibt es ohnehin keine akzeptable Alternative. Denn bei anderen Präparaten gilt: „Die Nebenwirkungen sind so schwer, dass die Patientinnen die Medikamente absetzen“, so der Mediziner.
Fehlende Puzzlesteine gefährden den Therapieerfolg
Der Mangel gefährdet den Therapieerfolg: In den letzten Jahrzehnten hat gerade die Brustkrebstherapie enorme Fortschritte gemacht. 90 Prozent der Patientinnen überleben, die meisten gelten irgendwann als geheilt. Doch das funktioniert nur, wenn sie auch nach dem aktuellen Stand der Forschung behandelt werden können.
Jede Krebstherapie ist ein feintariertes Puzzle von Maßnahmen und Medikamenten, jedes Teilchen, das fehlt, reduziert den Erfolg. Derzeit ist es um viele Puzzleteilchen schlecht bestellt: Tamoxifen ist zwar inzwischen wieder erhältlich. Dafür gibt es aktuell bei zehn anderen Medikamenten, die für die Krebstherapie essenziell sind, erhebliche Lieferprobleme.
Preiskampf im Generikasektor
Überwiegend sind es bewährte Medikamente wie Tamoxifen, deren Patentschutz schon lange abgelaufen ist. Sie werden dann sehr viel kostengünstiger von sogenannten Generika-Herstellern produziert. Das entlastet zunächst das Gesundheitssystem.
Der Kostendruck ist aber so hoch, dass die Medikamente selbst oder wesentliche Grundstoffe mitunter weltweit nur noch von wenigen oder gar von einem einzigen Anbieter produziert werden – oft im Ausland, insbesondere in China und Indien.
Das bedeutet aber auch: Fällt ein solches Unternehmen aus, wird es weltweit eng. 2016 gab es eine Explosion in einem chinesischen Werk. In der Folge wurde das Antibiotikum Piperacillin weltweit über Monate knapp.
Brüchige Lieferketten
Noch ein weiterer wesentlicher Schwachpunkt hat sich in der Pandemie drastisch offenbart: Funktionieren die Lieferketten an irgendeinem Punkt nicht mehr, sind Engpässe vorprogrammiert. Davon sind nicht nur Generika betroffen: Auch bei unter Patentschutz stehenden Therapien gibt es immer häufiger Probleme.
Entweder, weil der Hersteller selbst Schwierigkeiten hat. Oder es mangelt an Generika, die in Kombination mit den Präparaten eingenommen werden müssen. Dazu gehören unter anderem Calciumfolinat, Harnsäuresenker, Antibiotika und Immunglobuline. Meist federn sie Nebenwirkungen ab. Starke Übelkeit beispielsweise, aber auch schwere Langzeitfolgen wie Nierenschäden.
„Wir können manche innovativen Medikamente nicht anwenden, nur weil der Langzeitpartner nicht vorhanden ist“, berichtet Beckmann. „Das ist eine perverse Situation.“ Betroffen ist beispielsweise ein sogenannter Checkpoint-Inhibitor, der gegen besonders tückische Brustkrebsformen wirkt: die tripple-negativen Mammakarzinome. Er selbst ist lieferbar, nicht aber das nierenschützende Co-Medikament.
Ein Lieferengpass ist noch kein GAU
Allerdings: „Nicht jeder Engpass ist gleich ein GAU!“, betont Prof. Bernhard Wörmann, leitender Krebsmediziner an der Charité und Medizinischer Leiter der DGHO. Mit Mühe und Kreativität lassen sich viele Lieferprobleme abfedern und eine echte Unterversorgung vermeiden.
Bislang ist es so oft gelungen, fehlende Medikamente doch noch herbeizuschaffen – aus dem europäischen Ausland beispielsweise. Das ist komplizierter als es klingt, wobei fremdsprachige Beipackzettel noch die geringste Sorge sind.
Doch oft sind Medikamente, die fehlen, ja weltweit knapp. Und das gilt dann auch bald für mögliche Alternativmedikamente, auf die sich alle stürzen – sofern es denn welche gibt.
Inzwischen verschärfen auch Hamsterkäufe auf nationaler Ebene die Problematik. Das fängt bei Ärzten und Ärztinnen an, die ihren Patientinnen und Patienten großzügig Rezepte ausstellen, um sie abzusichern. Das passiert aber auch in größerem Stil, wenn Großeinkäufer sich eindecken.
Was tun?
Was tun? Kurzfristige Maßnahmen wurden bereits ergriffen. Beispielsweise hat man die Importvorschriften für Medikamente gelockert. Auch wurde die Produktion, beispielsweise von Tamoxifen, wieder heraufgefahren – allerdings auf Kosten der Kapazität für andere Medikamente.
Zudem sollen knappe Medikamente künftig nur noch in kleineren Einheiten verordnet werden können. Auch das Aufkaufen größerer Kontingente soll künftig begrenzt werden.
Die Pharmafirmen sollen außerdem verpflichtet werden, rechtzeitig über drohende Lieferengpässe zu informieren.
Derzeit wird zudem eine Liste erstellt, die Alternativen zu den 200 wichtigsten Medikamenten erfassen soll. Die Fachgesellschaften sind gerade dabei, Vorschläge für Alternativpräparate zu sammeln.
Mittelfristig will man den bevölkerungsweiten Bedarf an unverzichtbaren Arzneien für bis zu drei Monate bevorraten. Experten streben hier eine gesamteuropäische Lösung an. Allerdings könnte das die Umsetzung verzögern.
Wie könnte es in Zukunft laufen?
All diese Maßnahmen packen das Problem allerdings nicht bei der Wurzel: Von manchen Medikamenten werden einfach zu wenig hergestellt – oder aber sie werden von zu wenigen Herstellern produziert. Langfristige Maßnahmen sollen daher gewährleisten, dass die Produktion von Medikamenten und Medikamentengrundstoffen wieder durch mehr Anbieter erfolgt.
Dazu müsste der Preisdruck insbesondere auf Generika reduziert werden, damit sich die Produktion wieder lohnt. Denn während für innovative Medikamente teils Mondpreise abgerufen werden, geht es in der Generika-Herstellung oft um jeden Cent.
Was Produktionsstandards im Ausland bringen könnten
Ein weiterer Hebel könnte sein, stärker auf Produktionsstandards im Ausland zu pochen. Wenn Produzenten Umweltstandards und faire Arbeitsverhältnisse gewährleisten müssten, wären Dumpingpreise auch dort nicht mehr zu halten.
Hier einzugreifen wäre zudem nicht nur aus ethischer, sondern auch aus schlichtem Selbstinteresse geboten: Unter anderem werden durch bei unsachgemäßer Antibiotikaproduktion und schlecht geklärte Abwässer dort vielerorts multiresistente Keime in der Umwelt geschaffen.
Vor allem wird der Ruf laut, durch gezielte Aufforstung pharmazeutischer Produktionsstätten für wichtige Arzneien in Europa die hiesige Versorgung mit Medikamenten und Arzneigrundstoffen abzusichern. Nur so ließe sich die Gefahr durch Lieferengpässe und Abhängigkeiten von internationalen Monopolisten einhegen.
So oder so: Es wird teurer
Ob Vorratslagerung, Preisanreize oder inländische Produktion – eines steht fest: Eine gesicherte Versorgung mit den wichtigsten Medikamenten wird mehr kosten. Die Ökonomisierungs-Schrauben-Taktik der letzten Jahrzehnte ist gescheitert: im Bereich der Krankenhäuser, des Pflegepersonals, der niedergelassenen Ärzte mit vorgesehenen 7-Minuten-Beratungszeithäppchen pro Patienten – und eben auch im Bereich der Medikamentenversorgung. All diese Beispiele zeigen: Zu viel Einsparen im Gesundheitssektor kommt am Ende alle teuer zu stehen.
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